Oh, diese Emotionen!

In den letzten Einträgen hatte ich hier und da erwähnt, dass es die großen beiden Brüder gerade nicht so ganz einfach miteinander haben. Ich bin nicht die Mama, die sagt: „Es ist mir egal, was du willst. Du machst jetzt, was ich sage!“ – Manchmal wäre das sehr viel einfacher, aber es ist mir wichtig, die Wünsche und Gefühle und Gedanken und Befindlichkeiten der Kinder zu hören, zu erkennen und ernstzunehmen.
Dafür müsste ich aber wissen, welche Wünsche, Gefühle, Gedanken und Befindlichkeiten das so sind…

Einerseits merke ich in solchen Momenten, wie sehr ich frau bin und wie sehr die anderen vier eben Männer sind. Oder werden wollen.
Aber andererseits: Hier wird viel geredet.
Mein Mann kann das sehr gut. (Also, wenn er was sagt, dann ist es gut.) Ich rede sowieso – und die Kinder lernen das. Es ist sehr faszinierend, das mitzuerleben. Ich bin dankbar, dass ich Kinder und später Männer in das Leben entlassen darf, die reden können und Worte benutzen können.

Der Kleinste hat noch nicht viele Wörter, aber er lernt, dass er die Wörter statt der Hände benutzen kann und dass mehr Wörter mehr Schätze sind. Er hört aufmerksam zu und ich weiß, dass in seinem Kopf viel mehr passiert, als wir so mitkriegen.

Im Kopf des Mittleren geht eine ganze Menge ab. Viel Phantasie. Viel Kreativität. Viel Verständnis. Viel Verarbeitung. Aber nur einen Teil davon dürfen wir mitkriegen, weil er nicht so viel redet und sich mitteilt. Es ist allerdings wie bei Papa: Wenn er sich Zeit nimmt, zum Sortieren und Reden, dann ist es gut! – Das macht er gern beim Auto fahren, spazieren oder so im Alltag nebenbei. Unerwartet und plötzlich kommen die wichtigsten Themen aus ihm heraus.

Der Große denkt viel. Und er redet viel. Und es ist ein Schatz, ihm zuzuhören, aber es dauert. Die meisten und längsten Abende sitze ich an seinem Bett. Mein Herz fließt über, wenn ich seine Gedanken, Sorgen und Gefühle hören darf. Ich liebe es zu hören, wie er denkt und schlussfolgert und versteht. Er hat ein unglaubliches Gedächtnis. Er kombiniert Worte mit Erlebnissen und Erinnerungen. Er hat die Gabe mit Worten zu spielen, seine aktuell liebsten Wortwitze, über die er tagelang gackern kann, sind die „Säge Nezareth“ und „Da werd‘ ich japanisch.“

Wieder zurück zum Anfang:
Ich kann nun also einigermaßen die Stimmungen meiner Jungs einordnen und darauf eingehen.
Ich ahne, dass an ihren Streitigkeiten gerade die Schuljahres-Müdigkeit oder die Hitze Schuld ist. Unter anderem. Oder die Sorge über die neue Klassenlehrerin. Schlafmangel. Oder Freundschaften. Oder die Stimmung in der Familie. Oder einfach das Seufzen, das manchmal mit dem Größerwerden kommt.

Ich stelle nämlich fest, dass die beiden Jungs sich immer ähnlich werden. Was Mut, Wachstum, Lautstärke, Hobbies, Kleidergröße und so angeht. Für mich ganz praktisch, denn sie können fast gleichen Klamotten tragen. Und für mich schön, denn ich mag ihr enges Bruder-Band und ich weiß gleichzeitig, dass sie auf ihre Art, in Charakter und Temperament immer unterschiedlich und einzigartig sein werden.

Der eine wird den anderen immer herausfordern. Der eine wird den anderen immer zum Lachen bringen. Der eine wird den anderen immer imitieren. Der eine wird den anderen immer anstecken. Der eine wird den anderen immer suchen. Der eine wird den anderen immer anstacheln. – Und der eine wird mal der und mal der sein. Und der andere wird mal der und mal der sein. Wisst ihr?

Sie lieben und hassen es, dass sie so ähnlich und so unterschiedlich sind. Aber so ist es doch immer. Mit Geschwistern und Ehepaaren. Und ich sehe vor allem, wie sehr sie sich ergänzen.

Noch eine weitere Sache:
Mich haben diese Brüder-Streitigkeiten sehr genervt. Sehr! Nichts konnte ich ihnen recht machen. Wollte der eine an den See, wollte der andere nicht. Wollte der eine die CD hören, wollte der andere auch genau die. Wollte der eine mit dem Rad zur Schule, wollte der andere laufen.

Und ihr erinnert euch, dass ich die Mama bin, die es gerne hat, wenn es allen gut geht und Harmonie herrscht. Tja..

Ich hab geschrieben, dass es nach den freien Tagen immer irgendwann ruhiger und besser wurde. Aber trotzdem hat es ab und zu ordentlich gekracht. – Irgendwann allerdings… irgendwann hab ich verstanden, worum es ging und konnte „das Ding“ benennen:

Es geht um emotionale Erpressung.

Diese Kinder haben mich und sich emotional unter Druck gesetzt. Wenn der eine das will, was der andere micht will, setzt mich das unter Druck. Weil: Ich muss entscheiden. Ich muss entscheiden, „wen ich lieber habe – auf wen ich höre – wer mir wichtiger ist.“ Und ich muss entscheiden, wen ich unglücklich mache. Und derjenige hat sein Unglück dann auch laut und wild und tränenreich und bockig zum Ausdruck gebracht. Wo auch immer wir gerade waren. Und das war nicht schön.

Also plötzlich, auf dem Weg zur Schule, kamen mir diese Einsichten und da, auf dem Schulweg, haben wir das besprochen. Sofort.

Und die Kinder haben es verstanden!
Sie haben beim ersten Mal auf meine Bitten gehört. Nach einem erneuten Wutausbruch kam eine lange, freiwillige Entschuldigung – und seit dem ist Ruhe. Obwohl Schule ist. Obwohl Veränderungen anstehen. Obwohl der Schlafmangel mehr und mehr wird.

Am Ende geht es doch immer um Bestätigung, Wertschätzung, Lob und Anerkennung. Um den vollen Liebestank und um das Wissen, dass alles gut ist.

Ich bin fasziniert und dankbar, wie einfach es plötzlich war. Weil ich verstanden habe, dass ich, wenn ich es allen recht machen will, auch an mich denken muss.

Comments

  1. Cairna says:

    Danke für diese Gedanken!
    Ich lese so gerne deinen Blog, weil in den wenigen Worten die große Weisheit steckt.

    1. Marit says:

      Vielen Dank!

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