Von deiner Nichte

20. April 2023

Es gibt so Menschen, die können einfach nicht über 40 Jahre alt sein, weil das ja bedeuten würde, sie würden so richtig alt sein. (Und ich ja dann nämlich auch..) Es gibt Leute, die bleiben in meinem Kopf und Herzen einfach bei irgendeiner kleinen Zahl stehen. Und fertig.

So ist das bei meiner kleinen Schwester zum Beispiel. Sie kann niemals über 30 Jahre alt sein! Und so ist das auch bei meiner Tante, von der einige behaupten, sie würde heute einen sehr runden Geburtstag feiern. Kann gar nicht sein…

Wenn ich jetzt ein paar Worte über meine Tante schreibe, bedeutet das übrigens nicht, dass ich nur eine Tante habe und auch nicht, dass es über die anderen Tanten und Onkels nichts zu sagen gäbe. Im Gegenteil. Aber heute geht es um die eine und die ist schon besonders!

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Ich kann mich leider nicht an unsere Anfänge erinnern, aber ich weiß, dass sie ohne eigene Kinder schon immer ein riesengroßes, großzügiges, liebevolles Herz für alle ihre Nichten und Neffen hatte. Ich bin Nummer 1 – danach folgten noch 11.

Ich weiß, dass sie als Schwester meines Vaters und Freundin meiner Mama sicher nicht ganz unbeteiligt an meiner Vorgeschichte war und zusammen haben sie vor unserer Zeit so einige Dinger gedreht. Als Jungendliche in der DDR, aber immer fest im Glauben an Gott galt es, kreativ zu sein, um nicht durchzudrehen und die schönen Seiten im Leben zu finden und zu feiern. Und das haben sie! Ebenfalls mit vielen Geschwistern, Cousinen und Cousins und darüber hinaus erzählen sie noch heute von Erlebnissen, Ausflügen und Situationen, die uns in der nächsten Generation staunend vor Neid erblassen lassen – und ein Teil von mir wartet immernoch auf diese wilden Jahre in unserer Generation. Aber ich ahne: Diese Zeiten sind vorbei.
(Falls ihr anderen das hier lest: Lass‘ mal was machen!)

Diese Zeiten aber haben aus meinen Eltern, ihren Freunden und meinen Tanten und Onkels das gemacht, was sie heute sind und das ist schon sehr besonders und einzigartig!

Meine Tante war oft bei meinen Eltern und bei uns und hat viel geholfen, zum Beispiel mit der nicht enden wollenden Wäsche bei 4 kleinen Kindern. Am 1. Schultag kam sie regelmäßig, um beim Einschlagen der vielen neuen Hefte und Bücher zu helfen. Aber richtig cool wurde es erst, als wir dann allein zu ihr fahren durften. Meine ersten Erinnerungen an Übernachtungen woanders waren bei meinen Großeltern und bei ihr.

Ich weiß nicht, was besser war: Das Gefühl, endlich mal irgendwo alleine sein zu können und mich als vollständiger, großer Mensch zu fühlen – oder die kleinen Rituale, die zu den Besuchen bei meiner Tante gehörten. Nur um mal Schokoladen-Zigaretten und den ersten Schluck Eierlikör später zu nennen.

Wir als Familie waren nicht arm oder mittellos. Mit 4 Kindern, einem Papa auf der Arbeit und einer Mama, die lange mit uns zuhause war, gab es eben kaum Markenware, teure Urlaube oder einen unnötigen Überfluss. Wir hatten von allem genug und mich als Kind hat das nicht gestört.

Dafür durften wir uns bei meiner Tante verwöhnen lassen. Zu Beginn eines Wochenendes bei ihr sind wir nämlich einkaufen gegangen. Und dann durfte es mal der bessere Joghurt, die guten Getränke und Lieblings-Süßigkeiten sein. Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, aber ich glaube, jeder von uns hat immer auch an Mitbringsel für die Geschwister gedacht.

In ihrer Wohnung gab es dann meine Lieblingsspiele und Bücher, Kosmetikartikel und Klamotten. Model-Foto-Shootings, Schaum-Parties mit Süßigkeiten in der Badewanne, ein bißchen Schminke, coole laute Musik und Serien, im Fernsehen, die ich nur mit ihr verfolgt und mitgefiebert habe. Sie hat mir stundenlang und professionell die Haare zu vielen kleinen Zöpfchen geflochten. Unsere Liebe zur Kelly Family und allem Klatsch und Tratsch, den wir finden konnten, haben wir geteilt. Es gab immer viel zu lachen! Unzählige Kniffel- und Würfel-Spiele, die immer auch eine Kopfrechen-Übung waren. (Darin sind alle anderen in der Familie ausser mir irgendwie gut.) Stadt-Land-Fluss war so ein Lieblings-Spiel und ist ja letztendlich auch ein guter Push für die Allgemeinbildung, jedenfalls, was Geografie betrifft. Zu den Hochzeiten meiner anderen Tanten und Onkels, ihren Geschwistern, haben wir ganze Programmpunkte geplant und Überraschungen ausgeheckt.

Vor allem fällt mir auf, je mehr ich schreibe, dass sie andersherum auch tagelang mein Gequatsche ausgehalten haben muss. Wer mich und die Länge meiner Blog-Artikel kennt, weiß, dass ich einen ordentlichen Redebedarf haben kann. Und ich kann sehr schnell und sehr viel reden. Wenn nun ich als älteste Schwester woanders endlich mal Gehör bekomme habe und jemand finden konnte, der meine neuesten Witze noch nicht kennt oder lange nicht gehört hat… oh weh, es muss furchtbar gewesen sein!

Wenn wir die Abende gemütlich bei ihr verbracht haben und uns das Leben wirklich schön gemacht haben, so waren die Ausflüge tagsüber aber mindestens genau so besonders. Zu Traditionen gehört nämlich, dass es irgendwie immer ähnliche Ausflugsziele gab. Das Schiffshebewerk Niederfinow, der Zoo Eberswalde, der Wildpark Schorfheide, der Stechlinsee, Neuglobsow, der Werbellinsee, unser Familien-Zahnarzt in Lebus, das Kloster Chorin, Joachimsthal … Auch haben wir einige Urlaube in den merkwürdigsten Unterkünften an der Ostsee oder in Brandenburger Wäldern verbracht. Über jede Dummheit haben wir uns kaputt gelacht und das Leben hat einfach nur Spaß gemacht.

Im Auto durfte ich vorne sitzen, meine Lieblingsmusik aus einer riesigen CD Sammlung aussuchen und vor allem: Richtig laut drehen und laut mitsingen! Und wenn es sein musste, immer wieder das eine Lied!
An der Tankstelle gab es Mentos und grüne scharfe Zuckerpopel (keine Ahnung, wie die Dinger richtig heißen) und eine coole Zeitschrift, die irgendwas mit B… hieß und woanders nicht erlaubt war. Ich habe es geliebt!!!

Jedesmal wenn wir ins Auto stiegen, und das ist eine besonders schöne und warme Kindheitserinnerung, sagte sie: „Mal sehen, wo das Auto heute hinfährt.“
Und lange, lange (lange!) hab ich geglaubt, das Auto würde tatsächlich den Weg aussuchen und uns überraschen. Unsere Aufgabe war es dann, zu erraten, wohin es wohl gehen würde. Meine Tante (und das Auto) kannten aber alle Geheimwege und oft hatte ich keine Ahnung, wo wir waren, bis es dann plötzlich hieß: „Ach, HIER sind wir!“

Wir waren viel draußen unterwegs, haben es uns gut gehen lassen, an Süßigkeiten und Motivations-Futter wurde nicht gespart und ich glaube, wir haben teilweise ganz ordentliche Wege zurück gelegt. Meine Tante hatte einen Rucksack, der immer wieder neue Schätze hervorgezaubert hat… und da gab es dann Brötchen und Frischkäse, Käsewürfel und Würstchen, Trinkpäckchen, Obst und Gemüse und natürlich Süßigkeiten. Das hat sie geschleppt oder heimlich in unsere Rucksäcke gesteckt. Alle diese Überraschungen und gleichzeitig Traditionen waren das Größte an diesen Wochenenden! Und der Beweis, dass eine glückliche Kindheit oder die beste Erinnerung auch einfach ein frisches Brötchen im Wald am See sein kann. Dazu der Zauber des Besonderen von dem, was es zuhause eben nicht gab.

Wenn uns die Wege zu lang wurden, dann hat sie uns unermüdlich mit Wort-Spielen bei Laune gehalten. So haben wir durchs ganze ABC die Tiere, Orte, Berufe, Namen und natürlich Schimpfworte aufgezählt. Immer wieder. Wenn meine Geschwister, Cousinen, Cousins oder Großeltern dabei waren, dann haben da alle mitgemacht.

In meiner Erinnerung hatte meine Tante immer frei und Zeit für uns – aber wenn ich genau überlege, habe ich sie auch oft auf der Arbeit besucht. Als Betreuerin einer Wohngemeinschaft mit geistig behinderten Erwachsenen hatte sie nämlich auch Wochenend-Dienste. Mir würden sicher die Namen der Bewohner noch einfallen, wenn ich mir Mühe geben würde.. sie haben zum Leben meiner Tante dazu gehört. Für mich als Kind war es oft nur kurz komisch, dort zu sein – nach einiger Zeit war es ganz normal. Wir haben dort genau so Spaß gehabt, unsere Serien geguckt, Musik gehört, zusammen gegessen und gespielt. Und dort habe ich gelernt, Socken nach der Wäsche zusammenzulegen!

Ein ganz großer Schatz war das kleine blaue Auto, „der Pupser“, den ich mit 18 Jahren von ihr übernehmen durfte! Und zu meiner Hochzeit hat sie meine Kindersprüche zum Besten gegeben und uns alle richtig zum Lachen gebracht.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Ausflüge in ihrer Erinnerung anders aussehen. Dass es mal anstrengend, teuer, nervig und albern mit uns war – aber davon haben wir nichts mitbekommen. An diesen Wochenenden ging es nur um uns und anderes hat für uns Kinder nicht gezählt.

Als wir älter wurden oder als viele jüngere Cousinen und Cousins hinterher kamen, wurden die Übernachtungs-Wochenenden weniger, nicht aber unsere Beziehung und das gegenseitige Interesse aneinander. Zum Geburtstag gab es besonders schöne gestaltete Karten mit vielen guten Wünschen und großzügigen Geschenken. Familienfeste und Ausflüge haben ihren Reiz behalten, wir waren einfach nur mehr Menschen. Aber auf die Herzlichkeit und die Lautstärke solcher Treffen und auf unseren besonderen Familien-Humor kann man sich verlassen.

Als ich meinen Kindern von dem Blog-Text erzählte, leuchteten die Augen, sie grinsten und einer sagte: „Knicklichter!“
Denn auch mit meinen Jungs gingen die kleinen, feinen Traditionen weiter und man wusste einfach: Auf großen (langweiligen) Familien-Treffen hat meine Tante einen Vorrat an Knicklichtern und Seifenblasen in der Tasche und das Fest war gerettet. Es gibt das Spiel der „Schreckschrauben“, das sie zusammen lösen. Es gibt Sticker-Hefte und Auto-Karten, denn sie kann sich in die Welt der Kinder versetzen. Ihren Geburtstag haben wir oft zur Tulpen-Schau als Familie im Britzer Garten gefeiert und auch dort wieder Erinnerungen geschaffen. Es sind die kleinen Dinge, die den Unterschied machen und im Herzen gespeichert werden.

Und ich werde nie vergessen, dass sie in unserer langen Familien-Quarantäne-Zeit im Herbst 2021 plötzlich mit riesigen vollen Geschenke- und Lebensmittel-Tüten vor der Tür stand und einfach mal über 100 km gefahren ist, nur um uns zu überraschen, zu beschenken und vom Krankheits-Alltag abzulenken!

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Ich bin dankbar für diesen bunten Teil meiner Kindheit und Jugend, der sicher auch dazu geführt hat, dass ich bin, wie ich bin.

Manchmal ist es kaum auszuhalten, wie hart und ungerecht das Leben sein kann. Und man fragt sich und Gott: „Was ist da los?“ Denn auch Schicksalsschläge, Diagnosen und unschöne Überraschungen haben wir mit meiner Tante geteilt.

Aber zu einem großzügigen, bunten, fröhlichen, herzlichen Lebensstil gehört weder Gesundheit, ein volles Konto oder Friede Freude Eierkuchen. Oft ist es das Gegenteil. Und das ist ein großer Wert, den ich als Schatz für immer mitnehme.

Von meiner Familie und von meiner Tante habe ich gelernt, dass Gott immer größer ist und uns nie aus der Hand lässt. Dass Geben immer besser ist als Nehmen. Dass sich Geiz und Neid nicht lohnt und am Ende eh nichts bringt. Das Ehrlichkeit und Treue immer gewinnt. Dass sich Liebe nicht in einem vollen Konto weitergeben lässt. Dass man im Herzen immer Kind bleiben kann. Dass Zeit ein großes Geschenk ist. Dass die Kleinen, Schwachen, Kranken um uns herum niemals weniger wert sind. Dass Anteilnahme am Leben von anderen den Unterschied in einer Beziehung macht. Dass Erinnerungen einen großen Wert haben. Und dass wir mit guten Taten unsere Schätze im Himmel sammeln!

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Danke für deine verrückten, kreativen Ideen.
Danke, dass ich immer die gackernde Teenie-Nichte sein durfte und mich nicht „benehmen“ musste.
Danke für die unzähligen Ausflüge.
(Ein paar machen wir noch, oder?)
Danke, dass du keine Kosten und Mühen gescheut hast, uns zu überraschen und zu beschenken.
Danke, dass du unsere Themen geteilt hast und an unserem Leben interessiert warst.
Danke, dass du jeden Blödsinn mitgemacht hast und jeder Ausflug ein großer Spaß war.
Danke für deinen Mut, uns Floh-Haufen immer wieder einzuladen.
Danke, dass du auch meinen Mann und die Jungs ins Herz geschlossen hast.
Danke für deine unvergleichliche Großzügigkeit!
Danke für deine selbstlose Liebe.
Danke für die vielen Kindheitserinnerungen.
Danke für dein großes Herz für die Menschen, die übersehen werden.
Danke für deine Lebenseinstellung der Barmherzigkeit.
Danke für dein Vorleben eines starken Glaubens.
Danke, dass du Familie für uns bist!

Alles Gute zum Geburtstag!

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