Ungefähr vor einem Jahr fuhr ich mit Emilian in die Notaufnahme, weil er gegen einen Stuhl gelaufen war und eine Platzwunde auf der Stirn hatte. Ich habe hier davon geschrieben. Papa war nicht da, Liam kam zu Freunden und ganz tapfer brachte ich meinen Sohn ins Krankenhaus.
Gestern knallte es bei Liam. Also.. bei Liam knallt es eigentlich oft. Nur gestern eben richtig. Viel Blut, eine sehr offene Wunde am Kinn, ein Loch in der Oberlippe, ein Loch in der Unterlippe und Blut am Zahnfleisch…
Immer wieder höre ich jetzt, wer noch so alles diese Platzwunde am Kinn hatte. Scheint irgendwie dazuzugehören. Aber diese Wunde.. puh, das muss ich nicht nochmal sehen. Ich weiß ein bißchen, wie mein Kind von innen aussieht…
Für die Statistik: Papa war wieder nicht dabei.
Aber diesmal war der große Bruder nicht ganz unschuldig. Naja, Blut und Geschrei waren der Strafe genug für ihn. Emilian war sehr blass und hat so geweint.
Weil wir bei meiner Mama waren, kam sie mit mir ins Krankenhaus. Als wir im Auto saßen, hatte die Wunde am Kinn zwar aufgehört, zu bluten.. aber irgendwie wollte ich meinen Sohn mit dem offenen Gesicht da nicht allein hinten im Auto sitzen lassen. Mir wurde auch erst schlecht, als alles vorbei war. Tatsächlich funktionieren Mamas einfach, wenn es drauf ankommt.
Im Krankenhaus schien es so, als hätte man auf uns gewartet. Die Türen öffneten sich und sofort standen uns drei oder vier Ärzte und Schwestern zur Seite. Liam schrie! wie am Spieß, aber vor Angst und nicht vor Schmerzen. Die Wunde am Kinn wurde schnell geklebt, er bekam ein kleines Marienkäfer-Kuscheltier und das war’s auch schon. Oma und Emilian hatten draussen gewartet und bewunderten nun das große Pflaster. Liam wollte gern auf den Spielplatz, das war nämlich vor dem Sturz unser Plan gewesen – aber er schlief auf meinem Schoß schon ein und so brachten wir Oma wieder nachhause und fuhren los.
Unterwegs holten wir Papa ab und Liam wurde ein bißchen wach. Als er seinen Papa sah, schluchzte er nochmal ein bißchen, aber er war wirklich sehr ruhig und tapfer. Für eine Gehirnerschütterung war er allerdings doch fit genug. Das beobachteten wir.
Das Eis, das er bekam, traute er sich kaum zu essen und er sprach wenig.
Wir alle schliefen tief und fest. Liam kam heute Morgen in unser Bett und sah gut aus. Noch ruhig und unsicher, aber sonst normal. Er sprach nicht, lachte nicht und ich befürchtete irgendwie, dass seine Lippen in der Nacht zusammengewachsen sein könnten… aber ich durfte ein bißchen Blut mit dem Tuch abwischen und dann gingen die Lippen auch wieder auf. Er konnte trinken und essen, zumindest ein Joghurt. Emilian brachte ihn zum Lachen und war ganz glücklich über seinen Erfolg.
Liam trug noch seine Kleidung von gestern, teilweise blutig. Emilian zog schnell ein T-Shirt und ein Cars-Pulli drüber und wir brachten ihm zum Kindergarten. Als uns im Flur ein kleines Mädchen im weißen Kleid entgegen kam, fiel mir ein: Heute kommt der Fotograf!
Argh! Die ganze Woche hatte ich es mir gemerkt..
Ein Teil von mir wollte schnell nachhause laufen und ein schickes Hemd für Emilian holen, ihm die Haare kämmen und das Gesicht waschen. Aber der andere Teil dachte: „Wir waren gestern im Krankenhaus und haben es heute in den Kindergarten geschafft. Emilian hat ein sauberes Oberteil (ohne Blut) an und wird auf den Fotos gut aussehen!“ Warum immer nur so tun, als ob. Die verwuschelten Haare und der Cars-Pulli gehören zu Emilian und so wird er sich wohl und normal fühlen.
Weil wir nicht wissen, ob Liam einen oder zwei abgebrochene oder verschobene Zähne hat, werde ich jetzt mit ihm zum Zahnarzt gehen. Zum ersten Mal! Er wird tapfer sein. Und ich auch! Eine Platzwunde pro Jahr reicht nämlich.