Mutlose Mädchen

29. November 2022

(Buch-Rezension)

Als ich vor fast 13 Jahren Mama wurde, war ich entweder nicht in den gewissen Kreisen und Internet-Bubbles drin… oder aber das Frau-sein und Mama-sein war noch irgendwie anders.

Ich komme aus einer christlich freikirchlichen Familie und Gemeinschaft. Frauen haben eher (niemals ausschließlich) Kinder bekommen und Haus und Hof betreut. Die „großen Frauen“ meiner Kindheit und Jugendzeit sind wenig bis gar nicht einer bezahlten Arbeit nachgegangen, sondern sie hatten Zeit. Für die Familie. Für den Mann. Für Haus und Garten. Für Hobbies. Für die Kirche. Für Gäste. Für Projekte. Für Ehrenämter.

Ich fand das toll! So wollte ich sein, wenn ich groß bin!
(Hat ganz gut geklappt.)

Ich hatte keinen Blick für Schlagworte wie:
Vereinbarkeit. Vergleichen. Gleichberechtigung. Mental Load. Erschöpfungsdepression. Burnout. Angststörung. Erziehungszeit. Vaterzeit. Eingewöhnung.

Es gab das alles sicher schon, aber vielleicht war ich zu naiv es zu sehen, vielleicht habe ich mir nicht genug Gedanken gemacht, nicht hinterfragt – vielleicht war Schwäche zeigen noch zu ungewohnt, vielleicht war Frau eher mit sich allein. Vielleicht gab es auch einfach keine Plattform, erst Recht kein Social Media, und somit wenig Raum und weniger Erwartung und Druck von außen.

****

Am Adventswochenende haben uns meine Eltern besucht.
Es war wunderschön wuselig – aber auch gerade am Rande vom Chaos:

Mir ging es kurz gesundheitlich nicht gut und meine Mama war besorgt. Der Mann bereitete sich für eine Übernachtung in der Kapelle mit dem Teen-Kreis vor und packte sein Zeug. Mein Vater sprang mit den Jungs im Garten herum, sie holten eine Drohne von unserem ca. 20m hohen Baum, die da schon ein paar Jahre hing- (Fragt nicht.) Es gab Kaffee und Kuchen. „Mama, kannst du mal..?“ – „Mama, weißt du wo..?“ – „Oh, ist Papa schon weg?“ „Wo ist eigentlich Papa?“ Ich backte mehrere Formen mit Teig, sodass eine Weihnachtsstadt entstand. (Werbelink) „Mama, kannst du mit mir auf Toilette gehen?“ Oma brachte Geschenke mit: Zeitschriften und Schokoladen-Weihnachtsmänner. Am Abend waren zwei davon angeknabbert und einer aufgegessen, aber die beiden Großen Jungs hatten ihren noch nicht einmal gesehen. Dann hier ein Schach-Spiel. Dort das WM-Spiel gucken. „Mama, kannst du mir die App freigeben?“ In der Küche stachen wir aus Lebkuchenteig eine Krippe aus. Klebrig. Krümelig. Piepsender Backofen-Timer. „Mama, darf ich eine Mandarine?“ – „Warum darf der ein Eis?“ Meine Mama bekam aufgeregte WhatsApp Nachrichten von unseren ukrainischen Freunden in ihrem Haus: Ein Rauchmelder piepste nach neuen Batterien und sie wussten nicht, welcher es war. Übersetzungs-App. Tooor! Backofen-Pieps. „In der Drohne ist noch eine Speicherkarte!!!“ – „Komm, wir gucken, ob da Fotos drauf sind!“ – „Geh nicht an meinen Laptop!“ „Mama, guck mal, was ich kann!“ …

Wenn dich das bereits beim Lesen hibbelig macht, versteh ich das. Und das waren nur ungefähr 2 Stunden. Worauf ich hinaus will: Meine Mama hat 4 Kinder in kurzem Abstand bekommen und sagte, dass sie die wilden Kinderjahre trotzdem nicht als so wuselig in Erinnerung hat. Ja, die schweren Zeiten vergisst man auch mal und diese Samstags-Stunden bei uns waren auch wirklich trubelig… aber ich glaube, sie meinte, dass die Jahre ohne Bildschirme und weltweite Vernetzung auch irgendwie mehr Ruhe in sich hatten.

****

Als ich nun als Mama in immer mehr Mama-Kreise und auch in Mama-Blogs eintauchte, nahm ich die Überforderung und Überflutung eines Mama-Gehirns immer mehr wahr. Spätestens als ich beruflich in die Geburtsbegleitung und Mütterpflege einstieg, wurde mir klar, was da wirklich abgeht.

So viel Meinung. So viel Druck. So viel Erwartung. So viel Sorge. So viel Wissen. So viel Termine. So viele Gruppen. So viel Unsicherheit.

Ich möchte hier weder den Müttern, noch den Vätern, weder den Schwiegereltern noch den Chefs, weder den Finanzen oder der Gesellschaft die Schuld zuschieben… darum gehts hier nicht. Dass eine große Schieflage und Ungerechtigkeit da ist, ist offensichtlich. Dass Mütter (egal in welcher Phase und Lage) am Rand der Verzweiflung sind, ist eine Tatsache. Seit Jahren.

JETZT KOMMT’S:

Als ich das folgende Buch las, wurde mir wie mit einem ordentlichen Schlag in die Magengrube bewusst:

Unsere Töchter beobachten uns!

Unsere Nachbarsmädchen, unsere Nichten und Freundinnen, unsere Patinnen und die Freundinnen unserer Kinder, unsere Kundinnen und Patientinnen, unsere Teenager-Mädchen und Töchter sehen uns.

Wir sind die Frauen, auf die die nächste Generation schaut.

Und wäre das Leben als Frau und Mutter nicht schon herausfordernd genug, gibt eine Pandemie und Zeit der Isolation der Jugend noch eins obendrauf.

Die Autorin, Mutter und Bloggerin Nathalie Klüver erzählt von einem Vortrag vor ein paar 30jährigen Frauen:

aus Instagram

Es gibt keine große hoffnungsvolle Wende in diesem Blog-Eintrag.

Die Tatsache, dass immer mehr Mädchen die Wirklichkeit als bedrohlich und überfordernd erleben, hat mich echt getroffen. Weil ich die Überforderung von Frauen seit Jahren erlebe und weil mir nicht bewusst war, welches Bild wir weitergeben.

„Kinder wachsen allein,
werden aber nicht von allein groß.“

In seinem Buch „Mutlose Mädchen“, das 2022 im Kösel Verlag (Werbelink) erschienen ist, schreibt der renommierte Kinder- und Jugend-Psychiater Michael Schulte-Markwort über zahlreiche Gründe, warum gerade Mädchen diese Neugier und Freude auf das Leben abhanden gekommen ist. Eine Depression oder Traumatisierung kann oft nicht einmal nachgewiesen werden – aber trotzdem leiden die Mädchen und wünschen sich Veränderung.

Mit vielen Fallbeispielen aus seiner Praxis verdeutlicht er seine Erkenntnisse. Aber er richtet den Blick nach vorn und zeigt Lösungsansätze!

„In die Welt zu gehen und in ihr zu bestehen, erfordert Mut.
Einen Mut, der Neues spannend finden lässt.
Einen Mut, der Kinder in die Welt trägt und Angst durch bereichernde Aufregung ersetzt.“

Im Folgenden werde ich aufschreiben, worum es in diesem Buch geht. Wir alle haben junge Mädchen der nächsten Generation um uns und müssen wissen, um was es geht.
Denn ich glaube, dass es einzelne Sätze, Gespräche, Gedanken und Besonderheiten sind, die vielleicht ein Mädchen retten und den Unterschied machen. Das ist es wert!

Nach der Einleitung und genauen Erklärung sind im Buch einige Fallbeispiele zu lesen. Sie beschreiben den Befund. Vier mutlose Mädchen werden näher beschrieben.

Weiter werden die vier Geschichten interpretiert. So kommen die Fallbeispiele auf eine nächste Ebene. Was genau steckt dahinter? Es geht um Freiheit, Misstrauen und Angst. In was für einer Welt leben unsere Mädchen? Welchen Vorurteilen, Ängsten und Körpergefühlen sehen sie sich gegenüber?

Im nächsten Kapitel werden die Familiengeschichten der Mädchen untersucht. Handelt es sich um eine neue Krankheit? Was hat sich in den letzten Jahren verändert? Was sagen die Väter, die Mütter, die Geschwister und Lehrer der Mädchen?

Der Therapieverlauf und der Weitergang der Behandlung wird im Kapitel danach beschrieben.

Schließlich geht es um die Auswege der Mutlosigkeit. Wir bekommen Sichtweisen, Haltungen, Interventionen. Was hilft mutlosen Mädchen?

Am Ende gibt es „90 Sätze an Eltern“, die allgemeine Tipps und Anregungen zum Umgang mit Kindern geben. Ich verstehe, dass betroffene Eltern gern einfach ein Rezept oder einen Plan mit genauen Anweisungen hätten – aber so wie jedes Kind unterschiedlich ist, ist auch jede Diagnose unterschiedlich.
Und diese Sätze klingen vielleicht einfach, aber aus meinen Erfahrungen weiß ich, wie wichtig und hilfreich es manchmal ist, einfach nur gesehen, gehört und verstanden zu werden.

Beispiel:

Sie haben immer Ihr Bestes gegeben.

Seien Sie nachsichtig mit sich selbst.

Ihr Kind braucht Sie.

Was mögen Sie an Ihrem Kind am liebsten?

Beziehung ist immer besser als Erziehung.

Es gibt Körpergrenzen und Seelengrenzen.

Schaffen Sie Inseln der Gemeinsamkeit.

Ein liebevoller Blick ist wie ein Weg, auf dem die Kinder in die Welt gehen können.

Man kann kein Kind zu viel lieben.

Gesunde Familien sind unzerstörbar.

****

Mich hat das Buch vom ersten Blick auf das Cover sehr berührt und angezogen. Ich werde es hüten und gern teilen, denn diese Mädchen sind da. Mitten unter uns. Und sie brauchen uns.

Sie brauchen Erwachsene, die sich ihrer Stärken und Schwächen bewusst sind. Die mit Liebe nicht sparen. Die Vertrauen und Beziehung schenken. Die mutig ihren Weg gehen, das Richtige tun und ihre Mitmenschen sehen. Wollen wir diese Menschen sein?

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Comments

  1. Mandy says:

    Hallo liebe Marit! Der Beitrag ist so schön geschrieben, es hat mich wirklich mitgenommen.. Werde mir das Buch auf jeden Fall mal ansehen. Vor allem dein Satz „..einfach nur gesehen, gehört und verstanden zu werden..“ da stimme ich 100% zu. Liebe Grüße und alles Beste!

    1. Marit says:

      Oh Danke, das freut mich sehr. Alles Gute!

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